Der Informatiker Dr. Oliver Niehörster hat nach langjähriger Tätigkeit in einem großen IT-Unternehmen 2015 ein Startup für Data Science im Kontext von Industrie 4.0 gegründet. Zum November 2019 kam er als neuer Leiter der Abteilung Maschinelle Intelligenz (MIT) zum Fraunhofer IOSB-INA in Lemgo. Im Interview erklärt er, warum sich die deutsche Industrie schwertut, datengetriebene Geschäftsmodelle voranzubringen, und wie das IOSB-INA das mit dem KI-Reallabor ändern möchte.
Herr Dr. Niehörster, Sie kommen als Unternehmer in die Forschung und kennen beide Perspektiven – wo steht die deutsche Industrie?
Anders als etwa bei den kalifornischen Software-Konzernen kommt in industriellen Anwendungen KI zwar zum Einsatz, aber schafft oft noch nicht genug Nutzen in Prozessen oder gar im Geschäftsmodell. Sie findet sich bisher als isoliertes Feature in einzelnen Systemen, man denke an Wartungsassistenten, aber sie skaliert nicht, erfordert vielmehr immer noch einen hohen Grad an Individualisierung, Beratung und Absicherung.
Woran fehlt es, um die Potenziale von KI besser zu nutzen?
Große, weit verfügbare Datenmengen würden beispielsweise helfen. Letztlich müsste die Industrie bewusst und zielgerichtet Produktionsund Prozessdaten generieren, nicht beschränkt auf den einzelnen Betrieb, sondern unternehmens-, branchen- und domänenübergreifend. Bis dato sind öffentliche Daten aus realen industriellen Applikationen sehr selten. In diese Lücke zielt unser KI-Reallabor in Lemgo, das von der Plattform Industrie 4.0 mit gesteuert wird. Wir wollen gut aufbereitete Datensätze aus der Automation und Produktion generieren, um damit ganz unterschiedliche Entwicklungen anzustoßen und zu beschleunigen: von der Erforschung neuer maschineller Lernverfahren über Produkt- und Prozessinnovationen bis hin zu ganz neuen Business Cases für KI in produzierenden Unternehmen.
Die Datenlage ist also schwierig – welche Herausforderungen gibt es technisch und methodisch gesehen?
Um maximalen Nutzen in der Industrie zu erzeugen, müsste eine KI steuernd in Prozesse eingreifen. Das beginnt da, wo der Mensch nicht mehr jede Ausgabe der KI verifiziert, beispielsweise wenn Fahrzeuge von Service- Technikern ohne Prüfung mit den Ersatzteilvorschlägen einer KI bestückt werden und diese damit zu den Kunden fahren. Für eine steuernd eingreifende KI im industriellen Umfeld müssen noch einige Voraussetzungen geschaffen werden, um beispielsweise die Safety&Security-Anforderungen des Gesamtsystems gewährleisten zu können. Man muss Varianzen bzw. Konfidenzen der KIApplikation angeben können, braucht engmaschige und sichere Zertifizierungen der Kommunikationsprotokolle, muss bezüglich der Erklärbarkeit von Entscheidungen durch die KI weiterkommen und Aussagen über das Zeitverhalten in geschlossenen Ketten und im Zusammenspiel mit regelbasierten Systemen treffen können.
Das klingt noch richtig nach Forschung. Wie kann der Schritt zur Anwendung, zur Markt- oder Produktreife gelingen?
Wichtig sind Orte, wo sich Wissen und Forschung mit der Unternehmensrealität verknüpfen lassen – wie unsere SmartFactoryOWL oder künftig auch die Karlsruher Forschungsfabrik. Auf technologischer Seite wird automatisiertes maschinelles Lernen (AutoML) ein zentrales Werkzeug sein, um Produkte für reale industrielle Anwendungen zu entwickeln. In Lemgo arbeiten wir an adaptiven Modellen für das nicht-statische Verhalten von Anlagen und Produkten, etwa bei Wartung, Einfahrprozessen. Eine Herausforderung ist KI in Varianten und Produkthierarchien übertragbar zu machen. Der nächste Schritt wird dann sein, diese Machine-Learning-Modelle als Fähigkeiten in die Industrie 4.0-Verwaltungsschalen zu integrieren.
Dieses Interview ist zuerst im Newsletter InfOSB, Ausgabe 2/2020, erschienen.