Im Zusammenhang mit der zunehmenden Digitalisierung wird auch immer wieder von Disruption gesprochen, also von umwälzenden Änderungen der Unternehmenslandschaft, neuen Geschäftsmodellen und völlig neuen Produkt- oder Serviceangeboten. In der Produktion und ihrer Automatisierungstechnik erweisen sich die durch Industrie 4.0 induzierten Veränderungen eher als Evolution denn als Disruption [1], weil Produktionsanlagen über lange Zeiträume abgeschrieben werden, Investitionssicherheit erforderlich ist und Ingenieure vielfach nach dem Motto handeln: „Never change a running system.“
Bei den F&E-Arbeiten zu unserem SmartFactoryWeb (SFW), einer industriellen Plattform für Smarte Fabriken, das gleichzeitig offizielles Testbed des Industrial Internet Consortiums (IIC) ist, sind die Entwickler des IOSB zu dem Schluss gekommen, dass diese Plattformen tatsächlich disruptive Wirkungen für die Fertigungsindustrie haben können. SFW zielt darauf, Verbesserungen in der Wertschöpfung durch flexiblen Ausgleich von Kapazitäten zwischen den Smart Factories der Plattform zu erzielen. Dazu registrieren sich die Fabriken im SFW-Portal und eröffnen somit Kunden eine Suche nach geeigneten Produktionskapazitäten. Inzwischen verfügt SFW auch über Funktionen zur Verwaltung von Lieferketten und –netzwerken. Da Produktionsunternehmen meist auf Zulieferer angewiesen und über mehrere Standorte verteilt sind, ist diese Funktionalität ein wichtiger Schritt, um Verbesserungen und Verhandlungen über Unternehmensgrenzen hinweg zu erreichen.
Inzwischen haben sich am Markt diverse Manufacturing-as-a-Service- (MaaS-)Plattformen etabliert, die die Herstellung von Teilen – aktuell meist noch NC-Bearbeitung, 3D-Druck oder Herstellung von Blechteilen – als Dienstleistung anbieten. Fertigungsunternehmen werden Teil solcher Plattform, indem sie ihre Ressourcen und damit die Fertigungskapazitäten zur Verfügung stellen; die Plattform übernimmt alle administrativen Tätigkeiten: auf Basis der vom Kunden bereitgestellten 3D-Daten kalkuliert die Software automatisch den Preis sowie den Liefertermin und vergibt den Fertigungsauftrag an eine seiner angeschlossenen Fabriken. Der Endkunde hat somit keinen Kontakt mehr mit dem Fertigungsunternehmen, sondern lediglich mit der Plattform. Die Plattform übernimmt außerdem die komplette Logistik und – falls bei einem Fertiger Investitionen in Kapazitätserweiterungen erforderlich sind – auch deren Finanzierung. Mit eingebetteter KI hat die Plattform die Möglichkeit des Lernens aus den Geometrien bis hin zur Verbesserung der NC-Programme; im Extremfall kann sie den Fertigungsunternehmen die Programme vorgeben, mit denen zu fertigen ist. Das einzigartige Fertigungs-Know-how wandert also unmerklich in die MaaS-Plattform.
Dieses Szenario ist aus Sicht des IOSB tatsächlich bedrohlich für kleine und mittelständische deutsche Fertigungsunternehmen, denn damit werden sie abhängig von der jeweiligen Plattform. Der direkte Kundenkontakt existiert für sie nicht mehr; der Wettbewerb findet aufgrund der maximalen Transparenz fast ausschließlich über den Preis statt. Aktuell gilt dies zunächst für Commodities, also für Standard-Teile, aber es ist denkbar, dass auch weitere Fertigungsverfahren auf den Plattformen gehandelt werden. Wichtige Anbieter solcher Plattformen sind derzeit Protolabs und Xometry aus den USA oder Haizol aus China; auch in Deutschland existieren einige – meist als Start-ups gegründete – Plattformen.
Aus Sicht des IOSB ist es jedoch entscheidend, dass Daten aus Produktionsanlagen und Fabriken nur in spezifischen Anwendungsfällen an Dritte weitergegeben werden. Die Nutzungskontrolle über die Daten muss beim Eigentümer der Geometrien bzw. beim jeweiligen Fertigungsunternehmen erhalten bleiben. Niemand in Deutschland kann ernsthaftes Interesse daran haben, dass (ausländische) MaaS-Plattformen alle Geometrie-Dateien der Kunden sammeln, auswerten und ggfs. darauf aufbauendes Fertigungs-Know-how konzentrieren.
[1] Jasperneite, J.; Niggemann, O.: Die Automatisierung verträgt keine Disruption. Interview in der atp 08/2018.